Am Erker 79

Wolfdietrich Jost: Auswege, Irrwege, Abwege

Michael Kanofsky: Engel im Schatten des Flakturms

Rüdiger Saß: Sein letztes Lächeln

Hannes Oberlindober: Blauverschoben

Oliver Uschmann / Sylvia Witt: Lost Levels

 
Fritz Müller-Zech 79
Die Kolumne
 

Ich war weg, nun bin ich wieder da. Was ich in der Zeit meiner Abwesenheit getrieben habe, möchte ich gerne verschweigen. Dass man mich nicht finden würde, war mir ein Herzensanliegen. Tatsächlich hat niemand nach mir gesucht. Also kehrte ich zurück. Daheim lag ich stundenlang auf der Couch, hörte alte Jazzplatten und blätterte in neuen Büchern. Was ich dort zu entdecken hoffte, weiß ich nicht mehr. Manches habe ich mir notiert, zum Beispiel die Formulierung "goliathgroße Plastikketchupflasche", die der Ich-Erzähler in Michael Kanofskys Roman Engel im Schatten des Flakturms benutzt, um einen Gegenstand zu beschreiben, den er an einem Berliner Imbiss, von ihm als "Neonbude" bezeichnet, erspäht. Von großer Bedeutung ist all das nicht - das Buch widmet sich entscheidenderen Dingen, nämlich dem prekären Verhältnis zwischen Fiktion und so genannter Realität sowie dem Geheimnis literarischer Kreativität. Dass die nicht unbedingt gefördert wird, wenn über dem Schreibtisch Porträts großer Schriftsteller von Proust bis Dickens hängen, hätte ich dem namenlosen Erzähler-Ich ohne Umstände verraten, wäre ich denn eine Figur in Kanofskys Roman. Ich hätte ihn auch davor gewarnt, die Aufzeichnungen seines verstorbenen Freundes Stidmann, der ihm seine Berliner Wohnung vererbt hat, zu lesen, findet sich in diesen doch der verhängnisvolle Satz: "Beckett und Kafka sind bei mir: alles ist gut." Das habe ich auch einmal geglaubt, und ich weiß, wohin das führt, kann es aber nicht so schön ausdrücken wie Rüdiger Saß, der in seiner Geschichte "Über den einsamsten Autor der Welt" einen Herrn namens Biergelb wie folgt einen Text beginnen lässt: "Niemand interessiert sich für mich, den einsamsten Autor der Welt, niemand interessiert sich für mein Schriftgeschwafel, die von mir fixierte Zeit, festgenagelt wie ein Bild an der Wand." So ganz stimmt das natürlich nicht, das weiß auch Rüdiger Saß, der gerade ein Bändchen mit satirischer bis grotesk-bösartiger Prosa herausgebracht hat, in dem auch die zitierte Geschichte, die ebenso freudlos alliterierend ("hechelt der Gehetzte") endet, wie sie begonnen hat ("lauter Lampen, die wie Leichen von der Decke herabhängen"), zu lesen ist. Mir gefällt das, aber trotzdem muss ich noch einmal zurück zur Avantgarde, die, obwohl angeblich längst historisch geworden, noch immer für Unruhe im Kunst- und Literaturbetrieb sorgt. Wer Freude am Sprachspiel samt narrativem Experiment hat und vielleicht auch noch Interesse an Fußball und Kneipengesprächen aufbringen mag, sollte sich unbedingt Hannes Oberlindobers Roman Blauverschoben, der in einem einzigen Absatz Paul Celan, H. P. Lovecraft und Perry Rhodan unterbringt, zulegen.
Empfohlen hat mir dieses vielschichtig-ambitionierte Buch der Autor Oliver Uschmann, als Experte für jede Art von erzählender Literatur seit Jahren Mitarbeiter dieser Zeitschrift. Zusammen mit seiner Frau Sylvia Witt hat er in den letzten fünfzehn Jahren eine fiktive Wohngemeinschaft zur virtuellen Realität werden lassen, nach ihren Titelhelden Hartmut und ich kurz "Hui-Welt" genannt. Die bisherigen Bände der Reihe sind in großen Verlagshäusern erschienen, nun nimmt sich das Schriftstellerpaar in der hauseigenen Edition Hornbrede selbst seines Werkes an. Den Auftakt macht ein Episodenroman, dessen erste Abteilung einige Abenteuer aus der Zeit vor der Gründung der WG im Jahre 2005 schildert. Und wir sehen, dass Hartmut schon frühzeitig sein Talent kultiviert, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, indem man ihnen die eigene Melodie vorspielt. Das ist lustig und nachdenklich zugleich - so habe ich mir unterhaltsame Literatur immer gewünscht.
Ebenso kritisch, aber erheblich ernsthafter im Duktus kommen die Geschichten des 1938 geborenen Wolfdietrich Jost daher. Die schöne neue durchdigitalisierte Arbeits- und Konsumwelt samt ihrer vollmundigen Versprechen wird in ihrer erhabenen Lächerlichkeit vorgeführt. Da bin ich ganz auf seiner Seite, auch wenn mich Behauptungen wie, der Autor lege "den Finger in die Wunden unserer Zeit" und beschreibe "mit scharfem Blick einen erschreckenden Werteverlust", beinahe dazu veranlassen könnten, beherzt ja zu den Versprechen der Bewusstseinsindustrie zu sagen. Als wir in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in unserer WG-Küche eine Anzeige der Deutschen Bank an die Wand pinnten, in der es neben einem Bild des jungen Boris Becker hieß, es sei ein "gutes Gefühl, wenn aus Leistung Erfolg" werde, war das vielleicht nur eine halbironische Geste.
Wahr ist sicherlich, dass es ein miserables Gefühl ist, wenn Leistung langfristig erfolglos bleibt. Aber ich möchte nicht klagen. Es ist spät geworden, und ich beende diese Kolumne lieber mit einem schönen Satz aus einem alten Schundroman: "Die Nacht war das einzige, was mir noch geblieben war, und auch davon war nicht mehr viel übrig."

 

Wolfdietrich Jost: Auswege, Irrwege, Abwege. 88 Seiten. Athena. Oberhausen 2019. € 14,90.

Michael Kanofsky: Engel im Schatten des Flakturms. Roman. 260 Seiten. Duotincta. Berlin 2019. € 17,00.

Rüdiger Saß: Sein letztes Lächeln. Geschichten. Container Press. Walheim 2020. € 9,90

Hannes Oberlindober: Blauverschoben. Projektverlag. Bochum 2019. € 14,80.

Oliver Uschmann / Sylvia Witt: Lost Levels. Roman. Edition Hombrede.  Ascheberg 2020. € 12,00.