Ich schüttelte die Regentropfen von meinem Hut und ging ins Zimmer. Niemand sagte etwas. Es war ein Sonntagabend im April. Oder ein Montagnachmittag im Juni. So genau weiß ich es nicht mehr. Aber das spielt auch keine Rolle. Denn eigentlich war nichts passiert. Abgesehen vom plötzlichen Auftauchen der beiden Sätze, mit denen diese Kolumne beginnt. Ich habe sie einem der berühmtesten Schundromane der Weltliteratur entliehen. Raymond Chandler fand ihn unlesbar, aber der posthum hochgeschätzte Jörg Fauser war ein Fan. Meine Meinung tut nichts zur Sache. Ich frage mich nur, ob sie besser sind als diese beiden: "Es war eine frostkalte Nacht. Die Dunkelheit klammerte sich an alles und jeden." Dem Autor jedenfalls sollen sie gefallen haben. Er habe sogar mit dem Gedanken gespielt, alle seine Romane so beginnen zu lassen. Das behauptet zumindest der Literaturwissenschaftler Bruno Aigner, der gleich fünfzehn Kurzkrimis des 2014 verstorbenen norwegischen Avantgardeschriftstellers Frode Brandeggen, versehen mit einem umfänglichen Kommentar, herausgegeben hat. Allerdings hatte sich Brandeggen, als er diese Miniromane schrieb, längst von der literarischen Avantgarde abgewandt. Lieber wollte er für Leute schreiben, die Krimis lieben, aber das Lesen hassen. Das behauptet zumindest der Klappentext. Glauben mag man es nicht. Denn Brandeggens Prosa ist ausgesprochen langweilig. Und das ist kein Wunder, steht sie doch in der Tradition einer literarischen Bewegung aus Frankreich, die sich der Spannungsdekonstruktion und der Betonung von Selbstverständlichkeiten verschrieben hat. Pure Avantgarde also.
Natürlich ist all das erfunden. Der norwegische Autor Johan Harstad hat sich einen Spaß gemacht, als er seinen Roman Auf frischer Tat verfasste. Und der bestand darin, aus banalen Sätzen banale Erzähltexte zu verfertigen und diese in einem ebenso ausführlichen wie kenntnisreichen Kommentarteil so zu würdigen, als handelte es sich um große Kunst. Das ist ziemlich lustig. Aber auch leicht zu durchschauen.
Da ist der Leipziger Autor und Verleger Bertram Reinecke von anderem Kaliber. Schon der Titel seines Prosabändchens hat es in sich. Geschlossene Vorgänge. Über einige biografische Artefakte etc. hat er seine Sammlung von vier Texten genannt. Das klingt nach literarischem Experiment und lädt zu interpretatorischer Anstrengung ein. Der sich die oben erwähnten "Leute, die Krimis lieben, aber das Lesen hassen", nicht freiwillig unterziehen. Dabei entgeht ihnen so einiges. Denn Bertram Reinecke ist ein begnadeter Stimmenimitator. In allen vier, eigentlich fünf Texten des Buchs sagt jemand "ich", aber der Autor ist es nicht. Das ist heute im Zeitalter der "Autofiktion" so selbstverständlich nicht. Dabei kann Reinecke, wie erst neulich in einem Radiointerview, so einiges von seiner prekären Existenz als Schriftsteller und Kleinverleger erzählen. Aber das wäre nicht die "interessante Literatur", für die er sich einsetzt. Lieber lässt er einen aufklärerisch gesinnten Mechanikos den Ikaros-Mythos dekonstruieren, um dessen Argumentation gleich darauf einer geharnischten, ideologisch motivierten Kritik zu unterziehen, deren Verfasser namenlos bleibt.
Von der Antike geht es ins frühe neunzehnte Jahrhundert, zu einem "armen Schulmann", der glaubte, ein bislang unbekanntes Manuskriptfragment der Dichterin Sappho in Händen zu halten, aber nun erkennen muss, dass die Beweislage recht dürftig ist. Ähnlich glücklos versucht zwei Jahrhunderte später ein "zufälliger Zeuge", wie er sich nennt, einem geheimnisvollen "Steinritus" auf die Spur zu kommen. Seine Aufzeichnungen landen später bei einer auf Aktenvernichtung spezialisierten Firma, um dort in die Hände eines lesesüchtigen Mitarbeiters, fiktiver Verfasser des als "Nachwort" bezeichneten letzten Prosastücks, zu geraten. All das ist weniger kompliziert, als es sich hier liest. Wer sich auf diese fiktionale Welt jenseits des literarischen Mainstreams einlässt, lernt nicht nur einiges über die Macht der Wörter, sondern darf sich durchaus amüsiert fühlen. Denn Bertram Reinecke versteht sein Handwerk. Würde er sich auf das Verfertigen belletristischer Konfektionsware verlegen, könnte er kommerziell erfolgreicher sein. Doch das wäre ihm wohl viel zu langweilig. |