Am Erker 89

Wolfgang Denkel: Unter dem Goldregen

 
Rezensionen

Wolfgang Denkel: Unter dem Goldregen
 

Der einzig Überlebende
Cornelia Manikowsky

Nach zwei Dritteln ist es dann so weit: "Ich sollte aufhören, meinen Vater erklären zu wollen. Ich habe es eine Kindheit und Jugend lang versucht. (...) Jemand will so viel Macht genießen, wie seine Umgebung es zulässt. Aller banalste Militär-und Weltge­schichte. Klappe zu." – Doch es funktioniert nicht, der Erzähler wird weiter mit der Person des Vaters ringen. Weil sich die Klappe eben nicht schließen lässt.
Es ist eine bekannte Konstel­lation, der Wolfgang Denkel in seinem Buch Unter dem Goldregen nachgeht: der gewalttätige Vater, die unterwürfige Mutter, ein Kind – die Schwester des Erzählers –, das aus der Dynamik von Gewalt und Angst ausscheren kann, ein Kind – der Erzähler –, das das nicht vermag. Und im Hintergrund immer dabei: der Krieg, genauer, der Russland­feldzug und die anschließende Gefangen­schaft des Vaters.
Nun wird der Erzähler alt, die Erinnerung schwindet und unvermutet taucht ein kleiner Enkel auf, ein Baby noch, das der Welt so offen, neugierig und optimistisch begegnet, wie es der Erzähler nie vermochte. Aus dieser Situation heraus entwickelt sich der Text.
In kleinen, jeweils übertitelten Abschnitten wird die familiäre Bilanz erzählt: eine viel zu früh infolge eines gewalttätigen Übergriffs des Vaters verstorbene Mutter, eine mitten aus dem Leben gerissene Schwester, der Erzähler, nach dem dann schließlich erfolgten Tod des Vaters der "einzig Überlebende". Oder "Überdauernde", wie es heißt.
Dabei ist nichts sicher. Nicht nur das Erinnerungs­vermögen des Erzählers ist ins Wanken geraten, unsicher sind auch die Möglich­keiten oder gar das Recht (!) zu erzählen: "Ist es nicht überhaupt heikel und vielleicht sogar unmöglich, die Welt eines Kindes in der Sprache des Erwachsenen zu ergründen?" Oder: "Hätte ich das Leben meines Vaters leben müssen, von Anfang an – ich wüsste genau, warum er so wurde, wie er geworden ist."
So finden sich neben den Gewalttaten des Vaters auflis­tungsartige Schilderungen glücklicher Kindheits­erinnerungen, es finden sich tagebuch­artige Eintragungen und Witze und wie ein Mantra der Hinweis auf das reiche Leben des Erzählers – Schilderungen, unter denen das schwer beschädigte kindliche Ich des Erzählers zu verschwinden droht. Und da ist die Liebe! Die Liebe zu Elisa, der ersten Freundin des Erzählers, und die Liebe zu Jaro, dem kleinen Enkel. Die Liebe als ein Etwas, das nicht nur stärker ist als die Tyrannei des Vaters, sondern vor allem anderen Gesetzen folgt.
Als streiche die eine Hand aus, was die andere gerade geschrieben hat. Oder als kapituliere die Literatur gegenüber der Last der Vergangen­heit, um im nächsten Moment auf die Liebe als Rettungs­konzept zu verweisen.
Doch dann ist da dieser Ton: Verknappungen, Sprünge und Wortschöpfungen. Der "Erdenmüde", "Ganzkörper­freude", "Durchängs­tigung", "Daseins­komplizen", "körpergesund", "sich entbittern" ... Ganz im Gegensatz zur Schreib­skepsis des Erzählers werden neue Worte gefunden, so wie auch immer wieder zwischendurch ein literarisches Aufblitzen zu finden ist. Die Beschreibung des Todestages der geliebten Schwester zum Beispiel:
"Andas Tod. Ein 17. Mai. Ein Tag, wie er in französischen Filmen vorkommt, mit langen Tischen im Garten und lebhaften, einander trotz ihrer Verschiedenheit wohlgesonnenen Menschen. Anda soll ausgelassen gewesen sein. Sie hatte seit kurzem einen neuen Freund, zum ersten Mal einen jüngeren als sie selbst." – und da ist sie dann, die Literatur, die die Vergangenheit weder ändern noch erklären kann, allein ein Türchen kann sie öffnen.

 

Wolfgang Denkel: Unter dem Goldregen. Roman. 192 Seiten. Königshausen & Neumann. Würzburg 2025, € 14,-