Stefan Tetzlaff
1.
Ich lebe von bereits Gedachtem, und sehr lange schon geschieht
nichts mehr. Ich bin ein genau wiederholter Vorgang, eine exakte
Kopie desselben Moments und nehme immer dieselbe Zeit ein. Unten
auf der Straße gehen alte Kinder in gelbbraunem, schrägen
Licht spazieren, ohne sich an den Händen zu halten. Ich habe
Fernweh. Und ich bin beschädigt, denke ich. Aber wenn ich
die Vorhänge über dem Fenster schließe, bin ich
wie mit etwas sehr Dämmendem ausgegossen und vergesse, während
ich anfange etwas zu tun, mein Ziel. Und wenn ich mich wie nach
einer Ohnmacht bei geöffnetem Fenster wiederfinde, ist nichts
von dem ewigen Herbst vergangen und er fließt weiter von
dem Moment an, wo ich versucht habe, ihn auszuschließen.
Auch fortlaufen kann ich nicht, denn jedes Zimmer, in das ich
komme, ist meinem so ähnlich, dass ich eigentlich keinen
Schritt getan habe. Und sobald ich auf die Straße gehe,
bin ich nie in einem Zimmer gewesen, sondern immer ein spazierendes
altes Kind.
Dies kann nur eine Momentaufnahme sein, denn plötzlich verändert
sich etwas und ich soll nicht davon schreiben. Also tue ich es
und sehe mich mit dem ersten Buchstaben schon etwas verblassen.
Mir bleibt so viel wie das kurze Stehenbleiben der Gedanken zwischen
zwei Atemzügen und ich werde mit aller Gewalt erkennen für
diese kurze Sekunde: Leben.
2.
Vereinzelt tragen schon Menschen eine unsichere, besorgte Schutzhärte
im Gesicht, manche werden zur Person. Es greift jetzt um sich
und niemand leugnet es mehr. Man weiß, die Ruhe vor sich
selbst kann nicht mehr in den Winter gerettet werden. Und als
auf dem Gehweg in einer Stadt im Norden einer der Straße
zugewandt stehen bleibt und weint, ist die Welt in Alarm.
Man hat viel verlernt; das Ich ist auch etwas sehr Ungeübtes
geworden. Und die Zeiten ändern sich jetzt schnell, es kommt
neuerdings vor, dass jemand, vielleicht ein sehniger Mann mit
kleinen runden Augen, unter einem Stehtisch im Café, während
es draußen regnet und halb fünf ist, ein Stück
Papier sieht und aufhebt, auf dem steht:
"Ich hasse meinen Vater."
"Wie gut, dass nicht ich das bin", sagte der Vater.
Ein Wühlen verbreitet sich und die Erdoberfläche wird
zu einem von winzigen Düsen zerstäubten, kalt kochenden
Sprudeln. Nirgendworin ist sich mehr zu spiegeln und an keinem
Ort ist das Sein mehr ein schweres, bequemes, bergendes Element.
Überall stürzen Kinder beim Versuch zu waten ohne Halt
nach vorne, weil die Luft so dünn ist.
3.
Wir finden vor uns: Stadt. Stabile, gleichförmige Bewegung,
ein Fluss von unzählbaren ähnlichen Massen. Strategien
der Unsichtbarkeit. Stoffe und Häute wie optisches Rauschen,
an nichts kann der Blick hängenbleiben; alles ist gerade
so wenig tatsächlich, dass man umhergespült wird, ganz
namenlos. Motorrauschen, Schuhtrittrauschen, Augenrauschen, Münderrauschen
Da hört es bei einem auf. Stille im Rauschen. Ein weißer
Fleck. Es hat ihm wer etwas gesagt. "Ein Freund", hat
er laut gesagt, aufgeregt. Hat sich neben einen gestellt und einfach
gesagt: "Ein Freund." Der Hörer musste hören,
wurde zum Hörer und verlor das Rauschen. "Ein Freund
von mir", sagte der Verursacher wieder, "hat etwas wissen
wollen." Den Hörer fasst das Entsetzen an und drängt
ihn in eine andere Richtung. "Er wollte wissen, wer er sei."
Schnell, über Stufen, in eine andere U-Bahn-Station. Durch
eine Tür, die sich schließt." Innen steht neben
ihm der Erzähler. Niemand ist zu sehen außer ihm und
seinem Hörer. Alle anderen stehen und verlieren sich im Rauschen.
"Er hat geforscht, wer seine Eltern seien und wieder deren
Eltern. Tage hat er im Archiv verbracht und ist dabei auf immer
neue Archive gestoßen. Bis er zuletzt ins Nichts griff.
Sein Turm aus Zurückverfolgungen schwebte im Leeren. Die
letzte auffindbare Generation hatte keine Herkunft, sie war ohne
Ursache. Sie war unmöglich. Als er hinsah, das Schweben sah,
den Turm sah, mein Freund, stürzte er ein." Der Hörer
presste allerletzte Kraft zu Druck und schleuderte sich verzweifelt
hinaus in die Haltestelle, an der der Wagen für den Moment
stand. Sein gefrorener Körper fiel wie Eis auf die Steinplatten,
als die Schienenkästen wieder Fahrt aufnahmen und der Erzähler
aus einem Fenster gebeugt im Verschwinden rief: "Mein Freund
tat, was er tun musste. Nachdem es ihn nicht gab, blieb ihm nichts
übrig, als aufzuhören zu existieren."
Was geschieht mit dem Hörer? - Er wird zum Erzähler.
4.
Ich trage jetzt, wohin ich gehe, ein kleines Notizbuch mit. Denn
es kommen immer wieder Tage, an denen aus einem fremden Gesicht
in Sekundenbruchteilen eine Geschichte aufsteigt und mir im Kopf
schwebt, auch wenn das Gesicht längst wieder verschwunden
ist. Gestern schrieb ich: Ich hatte nur erfahren, dass der Besitzer
bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Nachts, zu Fuß
ist er unterwegs gewesen und schlecht sichtbar von einem ausbrechenden
Raser erfasst worden. Später las ich in einem Eintrag des
Tagebuchs: Eigentlich laufe ich nur, um die Angst des Ungewissen
zu erleben, wenn die Autos auf mich zu- und an mir vorbeidonnern.
Ich laufe auf Randstreifen und Radwegen neben Landstraßen.
Und in Kurven gibt es diesen Punkt, an dem einer, wenn er nicht
weiter die Kurve, sondern von da an geradeaus fahren würde,
direkt auf mich zukäme. Wenn der Weg nah an der Straße
ist, sind das manchmal nur ein paar Meter. Für diese halbe
Sekunde laufe ich eigentlich.
5.
Kohärenz ist Kruste. Logik ist Knochenschraube. Sobald man
sich dessen bewusst wird, ändern sich die Gesetze der Welt,
in der man lebt. Alles vertauscht sich, aber nicht so, dass man
es merkt. Hören wird Fühlen, und das Unbekannte wird
Sehen; so ist alles noch da, nichts fehlt, man kennt die Dinge.
Aber in derselben Minute spürt man, dass von allem Bekannten
nichts mehr vertraut ist und dass man am einzigen Ort, den man
kennt, nicht mehr zu Hause ist. Dann geht man fehl auf Straßen,
in denen man gewohnt hat. Jahrelang hatte man ein taubes Gefühl
im Körper. Und als die Sorge herweht mit einer Radiostimme
aus einem leeren offenen Fenster, schaut euch an, ob ihr euch
nicht geschnitten habt, da sieht man an sich herab und die Schienbeine
bluten und es kommt starker Schmerz.
Es ist wohl ähnlich mit der Verzweiflung. Man spricht ihre
Abwesenheit aus und man beißt sich noch auf die Zunge, aber
es wird doch schon einigen kalt. Dann steht ein Mädchen auf
und spricht wie ein gesammeltes Leben: Ihr wisst ja, dass ihr
knirscht aus euren inneren Rissen. Als ich noch eine alte Frau
war, entstand es ganz einfach, wenn zwei füreinander waren.
Bis das Wort zerfiel, hieß es: Liebe. Dann begann man es
anzustarren und man musste sich umklammern. Es war schlimm anzusehen,
wie es zuletzt mit euch war. Ihr wart heftig und keiner weinte
mehr; ihr hattet diese grauenvollen Gesichter, die nach dem Weinen
kommen. Und unter eurer Schicht habt ihr euch dabei zerstoßen.
Wie ein großes Stück Glas von innen verschieben sich
in euch beim Bewegen die Teile und mahlen aufeinander mit Geräuschen.
Und jetzt hört ihr sie wieder. Das wollte ich euch nur sagen.
Dann geht das Mädchen, zögernd und halb seitlich, manchmal
kurz rückwärts, wie jemand, der seinen Patienten nicht
wagt allein zu lassen. Schließlich ist es weg und der Platz
ist gefüllt mit tiefschneidendem gläsernen Reiben, das
von den Fassaden zurück in den Platz kreischt.
6.
Mein Traum kehrte wieder und ich war arglos. So etwas geschieht
vielen und wie sie dachte ich darüber nach, was er bedeuten
könnte. So merkte ich nicht, dass ich ihn schließlich
jede Nacht hatte; erst als er mehrmals und ausschließlich
meinen ganzen Schlaf füllte, sodass ich beim Erwachen manchmal
leicht vibrierte, bekam ich Angst, weil ich sah, dass er schon
zu nah war und mich wohl in der Hand hatte. Dann sprang er in
den Tag und brach ein letztes Mal in mir aus, für immer.
Jetzt ist er meine Wirklichkeit und was immer geschieht, entpuppt
sich schon nach kurzer Zeit als dieser mein einer Moment. Jedesmal
sehe ich an mir hinab, weil ich Geräusche und eine Stimme
aus dem Gitter im Boden gehört habe. Meine verriegelte Zelle
wölbt und schmiegt sich dann wie eine Wanne um den Abfluss,
aus dem ein verschmutztes Gesicht heraufsteigen will. Ich beuge
mich zu dem Kopf da unter dem Boden und lausche durch die Stäbe,
was er sagt. Im Dunkel des Schachtes ahnt man einen gezwängten
Körper und von tief kommt ein Sprechen zu seinem kaum bewegten
Mund: Lass mich raus und befreie mich. Ich stelle mich auf das
Gitter und atme tief ein gegen das Gefühl, ein Messer schwebe
ganz kurz vor meiner Nasenwurzel. Diese Konzentration dauert lange
und wenn ich müde bin, zucke ich irgendwann und stehe sehr
wach neben dem Gitter und werde von einer Stimme aus immer anderen
Gedanken gerissen.
7.
Man hatte sich zufrieden gegeben, war heimlich erstaunt über
das Fehlen jeder Verzweiflung, so kurz vor dem Ende. Vielleicht
nannte es irgend jemand versehentlich beim Namen, oder es war
bereits da und der Schwächste hatte sich den Mund nicht mehr
zuhalten können. Jetzt kreist eine Frage über den Zimmern
und Wohnungen und macht sie wund, sodass immer schneller die Geborgenheit
verschwindet und es sich bald überall so anfühlt wie
Schienen, Straßen und Wege.
8.
Es mag sein, der Kommandant hatte ein weiches Herz.
Einmal schlug er mich auf ein Ohr; aus einer kurzen, stummen Bewegung
heraus, die aus nichts kam und ohne Vergehen plötzlich fort
war, sodass man schon nach Sekunden, wenn die Gegenwart Vergangenheit
wird, zu zweifeln begann, ob es sie überhaupt und wirklich
gegeben hat. Vielleicht hatte ich auch eine Krankheit bekommen
und schämte mich, es zu sagen, und muss darum solche Unglaubhaftigkeiten
erzählen.
Das Schlafen kontrollierte der Kommandant. Er machte uns synchron
und schrie auf uns, dass wir uns nach links drehen, seitwärts
hochkant auf der Schulter liegen und schlafen sollten. Eine Bewegung
durfte nicht geschehen und der Kommandant, unser Kommandant saß
vom Abend durch die Nacht in den Morgen auf einem schwarzen Stuhl,
den man aus einer Ecke nehmen und sich hinfalten konnte, aus Plastik
war der und glänzend und in der Ecke lehnend ganz schmal,
wenn man ihn nicht brauchte. Von ihm aus blickte der Kommandant
uns fest an, bis wir schliefen und auch dann noch.
In der ersten Zeit wuchs von diesen Nächten ein stechender
Schmerz in meiner Schulter, der verschwand, als mir bewusst wurde,
dass er ohne Wirkung bleiben würde. Es würde keine Erlaubnis
geben, anders zu liegen oder sich zu bewegen während der
Nacht. Die einzige gestattete Stellung war eine aus eigenem Willen
allein gar nicht durchzuhaltende. Nur seine Blicke hielten uns
nach Stunden noch so. Der Kommandant schraubte uns nachts in einen
Schraubstock.
Eigentlich half er uns doch.
9.
Das Konzept der Eltern als letztes kulturelles Konstrukt der kollektiven
Täuschung ist beseitigt. Nach und nach hat man entlarvt:
Gott, Liebe, Eltern.
10.
Wir hatten oft in den Tunnel hineingerufen, er war das letzte
Überbleibsel irgendeiner Art von Bunker. Meist verbrachten
wir ganze Nachmittage bis zum Einbruch der Dunkelheit damit, vor
seiner stummen Öffnung zu spielen, herumzulungern oder Äste
und Steine hineinzuwerfen.
In dem Sommer, als wir anfingen in den Tunnel zu rufen, bekam
ich meine ersten Albträume. Ich stand mit dem Rücken
zum Tunnel und spürte etwas hervorkommen. Und wenn ich mich
umdrehte, wachte ich auf.
Je älter wir wurden und mit je mehr wir uns bemüht hatten,
den Tunnel zu wecken, desto gewagter wurden unsere Versuche. Schließlich
ging einer von uns ein paar Schritte hinein, dort, wo ihn das
Licht noch erreichte. Wir sahen seinen Rücken, er krampfte
sich wie an einem der Jahrmarktautomaten, die an den Händen
testen, wie viel Strom man verträgt. Als er es nicht mehr
aushielt, stürzte er zu uns zurück und atmete schnell.
Bald gingen wir zu mehreren, dann alle, immer ein Stück weiter,
mit gezählten Schritten. Wir gingen langsam, um uns an das
Dunkel zu gewöhnen und so von weiter innen noch den Ausgang
sehen zu können.
Dann ließen wir los.
Wir gingen so weit hinein, dass wir den schwachen milchigen Ausgang
hinter uns verloren. Er war unsichtbar und es war ein grandios
grausames, schockierendes Gefühl, wie ein bewegungsloser
Teil eines Felsens oder ein Stück Eis zu sein. Berauscht
versuchten wir das Licht wieder zu finden. Wir gingen in die Richtung,
aus der wir gekommen waren, viel länger als auf dem Weg hinein.
Aber der Ausgang kam nicht. Vor uns lag dasselbe wie hinter uns;
in dem Moment, da wir sie aus den Augen verloren hatten, war die
Öffnung verschwunden. Wir fanden später einige von den
Steinen und Stöcken, die wir hineingeworfen hatten. Und manchmal
glaubte einer von uns zwischen unseren Stimmen noch ein Echo von
unserem eigenen früheren Rufen zu hören. - Der Tunnel
aber behielt uns.
11.
Jetzt soll die Wiedererschaffung von Eltern versucht worden sein.
Mit Anstrengung und kindlicher Rücksichtslosigkeit.
Es war wie der Tod Gottes eine gehirnmuskulöse Spielerei
gewesen. Aber zuletzt war es nicht mehr ein Konstrukt, dem man
beim Einstürzen zusah, sondern man selbst. Da brach die Angst
aus. An nichts mehr zu glauben hatte man nur gewagt im Glauben
an Eltern.
Ich bin müde und niemand bringt mich zu Bett.
In mir sind viele Stimmen und jede meine eigene.
Und wie aus einem Mund: Es hat uns nie gegeben, mein Junge.
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